Der deutsche Seierfilm
Seierfilm ist ein Oberbegriff für besonders deprimierende Darstellungen des "realen Lebens" in Film und Fernsehen. Seierfilme lassen sich meist den Kategorien Drama, Melodram, Krimi und Tragikkömödie (mit überwiegendem Tragikanteil) zuordnen, ferner auch Seifenopern, Arztserien, Assi-TV und Thriller. Entscheidend ist weniger die Etikettierung, als die auf das Gemüt schlagende Machart und Atmosphäre, die oft von masochistisch veranlagten Personen gelobt wird. Eine Hochburg des Seierfilms sind Fernsehproduktionen des deutschen öffentlich rechtlichen Rundfunks. https://www.youtube.com/watch?v=3ULV35n2SrkMerkmale des Seierfilms
- ernste Themen
Das zentrale Merkmal eines Seierfilms ist die Auseinandersetzung mit Themen wie Tod, Krankheit oder anderen schlimmen Schicksalsschlägen sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen und das daraus resultierende Elend der Betroffenen. Es wird durchaus manchmal ein bemüht positiver Umgang mit schwierigen Zeiten gezeigt, da der Seierfilm auch belehrend und vorbildlich sein will. Doch da er realistisch ist, ist ein wirkliches Happy End nicht zu erwarten, sondern höchstens ein sich Arrangieren mit den Umständen. - Phantasielosigkeit
Der Seierfilm ist realistisch und bodenständig. Der vielfältig interpretierbare Begriff "Realität" wird hier im klassischen Sinn des arbeitenden Erwachsenenzombies gedeutet. Kein Platz für Phantasie, Träume, Visionen, nichts das im Entferntesten die eskapistische Sehnsucht nach einer besseren, größeren Welt, nach Abenteuer und Magie widerspiegelt. Es wird nur der begrenzte und negativlastige Horizont der heutigen Gesellschaft gezeigt als ein Zustand, mit dem man sich arrangieren muss, der sich aber nicht grundlegend ändern lässt. - triste Schauplätze
Zu den häufigsten Schauplätzen zählen charakterlose Mietwohnungen in städtischer Anonymität oder heruntergekommene dörfliche Einöde, sowie die belastende Umgebung des gemeinen Arbeitsplatzes wie Büros, Fabrikhallen, Baustellen. Je nachdem, in welchem Milieu die Tristesse angesiedelt ist, können auch die Staßen sozial schwacher Wohngegenden oder geschäftsmännische Gefühlskälte ausstrahlende Bonzenpaläste Austragungsort sein. Im Fall von Krimis schlagen auch Polizeireviere, Verhörräume und Gefängnisse regelmäßig aufs Gemüt. Wichtig ist, dass die Einrichtung karg, farblos und unpersönlich ist. - maulige Leute
Die Figuren sind spießige Normalbürger, deren einzige Besonderheit darin besteht, Opfer widriger Umstände geworden zu sein. Die schauspielerische Leistung der Darsteller muss keineswegs schlecht sein, doch mimen sie hauptsächlich langweilige und unsympathische Menschen, die einem permanent mit schlechter Laune begegnen. Einen Großteil des Films wird gestritten, geweint oder missmutig geschwiegen. Die Charaktere strahlen keine Lebensfreude aus und lassen jede Form von ansprechender Persönlichkeit missen. Auch äußerlich erscheinen sie in extremem Maße durchschnittlich. - stillose Inszenierung
Kameraführung und Schnitt sind von ermüdender Schlichtheit. Um die negative Emotionalität zu untertreichen, wird sich wenig origineller Stilmittel wie reduzierter Farbsättigung und getragener Musik bedient. Im Klassiker der musikalischen Seierfilmuntermalung schleppt sich (wenn überhaupt) ein einsamer Streicher oder synthetischer Ton zwischen im Abstand von mehreren Sekunden wahllos gedrückten Klaviertasten entlang. Kommt es im Fall von Verbrecherjagd zum Versuch einer Actionszene, so kommt diese meist ohne Dynamik und Effekthascherei aus und wird gelegentlich von Spannungsmusik aus der Konserve ohne Wiedererkennungswert begleitet.
Ausreden
Die Produktion von Seierfilmen ist eine schwerwiegende Verletzung der Berufsehre eines Filmschaffenden, dem als kreativer Geist hinter einer der komplexesten, viele Disziplinen vereinenden Kunstformen die hehre Aufgabe obliegt, der Freude am Erschaffen und Experimentieren Genüge zu tun, der Phantasie, der Kunstfertigkeit und dem menschlichen und technischen Fortschritt Ausdruck zu verleihen. Doch selbst wenn er selbst willens ist, werden ihm vom Rest der Welt Steine in den Weg gelegt und nicht selten erliegt er dem verirrten Kunstverständnis, dass die Erregung depressiver Stimmung schon Tiefsinn und jeglicher Anflug von Ästhetik schon Kitsch wäre.
- das Budget
Die faulste Ausrede ist immer das liebe Geld. Selbst die sich intellektuell überlegen fühlenden Schmäher von Schauwerten wissen, dass eine gute Geschichte, die gekonnt erzählt wird auch mit einfachen Mitteln auskommt. Jeder hirnlose Trashfilm, bei dem man den Spaß und die Leidenschaft der Mitwirkenden spürt und der vor billigen, aber einfallsreichen Effekten strotzt ist eine sinnvollere Nutzung des Minibudgets als ein verkrampftes Rührstück mit moralinsaurer Aussage, weil er den Fokus auf Möglichkeiten anstatt auf Grenzen richtet. Als positives Beispiel sei die deutsche Ausnahmeserie Ijon Tichy genannt. Hier wurde mit einfachsten Mitteln eine SciFiwelt erschaffen, die sich nicht mal bemüht, die Alltagsgegenstände, aus denen Kulissen und Kostüme gebaut sind zu tarnen. Hier wird aus der Not eine Tugend gemacht, wodurch die Serie an Charme gewinnt. - Zielgruppe
Schlechter Geschmack wird subventioniert. Die Fernsehanstalten kassieren Gebühren von allen, bedienen aber vorwiegend Pflegefälle mit der paradoxen Vorliebe den Fernseher einzuschalten, um das wahre Leben zu sehen. Jene, die in Leserbriefen das Quantitätsmerkmal "Normalität" als Qualitätsmerkmal statuieren, und sich über mangelndes Hörverständnis beklagen. Angeblich macht diese Zielgruppe einen Großteil des Publikums aus. Kein Wunder, denn dieses Angebot vergrault alle, die noch laufen können, nur die Bettlägerigen können nicht fliehen. - moralischer Vorwand
Seierfilme erheben den Anspruch, sich mit wichtigen Themen, die uns alle angehen zu befassen. Nicht selten werden sie mit der Phrase "nach einer wahren Begebenheit" beworben und zur Rechtfertigung der Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen herangezogen, als ob Bildung immer weh tun müsste. Der geneigte Zuschauer darf sich als besserer Mensch fühlen, der die Augen nicht vor den unangenehmen Seiten des Lebens verschließt, engagiert im heimischen Sessel dem Mitleid frönt und sich am Bierernst berauscht. - die mächtigen Studios
Gerne wird darauf verwiesen, dass die Fernsehanstalten großen Einfluss haben und aus den oben genannten Gründen die Kreativität unterdrücken. Das mag sein, doch wo ist der offene Protest? Wo ist der unterschwellige Protest? Warum sind die Filme nicht voller Anspielungen und versteckter Botschaften? Filmemacher mit einem Funken Restwürde gehen ins Ausland, und geben sich nicht die Mühe, die Filmwüste Deutschland noch zu retten.
Publikum
- intellektuell verbrämter Masochist
Die meisten Kritiker sind dieser Kategorie zuzuordnen. Sie geben sich nach alter Dichter und Denker Manier der Melancholie hin, jedoch ohne die Kreativität und die Sehnsucht, die zu großer Kunst führen. - geistig vergreister Normalitätsjünger
"Sowas gibt´s doch gar nicht!", hört man diesen Menschenschlag zu jedem nich 100% realistischen Inhalt rufen, und dies auch gleich als Argument für die vermeintliche Wertlosigkeit eines Films anbringen. Ihnen fehlt jegliches Abstraktionsvermögen um zu erkennen, dass auch Phantasiewelten als Parabel auf die Realität genutzt werden können. Sie sind unfähig, künstlerische Ausdrucksformen abseits von Realismus schätzen zu können oder überhaupt verschiedene Wahrnehmungs- und Verarbeitungsebenen zu verstehen. Sie verteufeln fiktive Gewaltdarstellungen, fremd aussehende Wesen und von der gesellschaftlichen Norm abweichende Verhaltensweisen, weil sie es immer 1:1 auf die Realität übertragen ohne je den tieferen Sinn des Gezeigten verstanden zu haben, oder die Freude am spielen und experimentieren erkennen können. Diese Leute haben ihr inneres Kind schon lange begraben. - verbitterter Moralapostel
Erweiterte Freuden, die einem der Seierfilm versagt
Phantasievolle Filme bieten Fans auch neben dem eigentlichen Konsum des Films vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten und Gesprächsstoff. Dies ist mit einem Seierfilm nicht, oder nur begrenzt möglich, und man sucht dort auch vergeblich nach einer regen Fankultur.
- Making Of
Bei einem Seierfilm kann man über die Mitwirkenden sprechen, über Motivation und Schwierigkeiten beim Dreh. Aber darüber hinaus gibt es wenig Anschauungsmaterial. Ein Science Fiction- oder Fantasyfilm hat hingegen viele Konzeptzeichnungen, Modelle, Kostüme, Requisiten, daneben auch komplexe Arbeitsschritte neben dem Hauptdreh wie die Vorbereitung und Nachbearbeitung von Effekten, technische Innovationen. - Cosplay
Die Charaktere sehen so normal aus, dass eine Verkleidung überhaupt nicht als Solche erkennbar wäre. Auch wenn ein Charakter einen wiedererkennbaren Stil pflegt, ist er selten so extravagant, dass eine Eigenanfertigung des Kostüms gegenüber des käuflichen Erwerbs ähnlicher Stücke notwendig wäre oder dass man damit auf einer Convention einen großen Wurf landen könnte. - Fan Art
Natürlich kann man Bilder von den Charakteren malen und Fanfiction schreiben, doch die Filme sind nicht darauf ausgelegt, visuell prägnante Inhalte zu liefern, die auch ohne die dahinterstehende Handlung eine sinnliche Erfahrung darbieten. Da der Seierfilm nur die "Realität" zeigt, enthält er kaum individuelle Stilelemente, die ihm einen einzigartigen Wiedererkennungswert geben. Die vorhandenen gestalterischen Dinge lassen meist keine Übertragung auf andere Medien oder Abwandlung zu, ohne ihren Bezug zum Originalwerk einzubüßen.